Die Studie basiert auf einer landesweiten Erhebung zur Gruppe der Jugendlichen kurdischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. In 350 Interviews, die mittels eines statistischen Verfahrens ausgewertet wurden, wird die Lebenssituation dieser Gruppe widergespiegelt. Durch die Analyse der Themenkomplexe "Sprachgebrauch und Mehrsprachigkeit", "Bildungsaspiration und -chancen" und "kulturelle Identität" werden Besonderheiten der Lebenssituation dieser Gruppe erfasst. Leitende Fragestellungen der Untersuchung sind:
- Wie sind die Bedingungen für formale und alltägliche Integration in die Aufnahmegesellschaft?
- Wie nehmen die Jugendlichen kurdischer Herkunft am gesellschaftlichen Leben des Aufnahmelandes teil?
- Welche Faktoren bestimmen Nähe und Distanz zur Herkunftskultur?
- Welche Konsequenzen haben ausgrenzende Erfahrungen für kurdische Jugendliche bei dem Aushandeln verschiedener, zum Teil widersprüchlicher Botschaften in ihrem Alltagsleben?
- Wie werden Chancen zur Partizipation an gesellschaftlichen Ressourcen vor dem Hintergrund fehlender Rückkehroptionen genutzt?
- Wie gestalten sich die Bezüge zu Freunden, Familie und Freizeit?
Vorwort der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen
Jugendliche kurdischer Herkunft in Deutschland
In meinem Büro hängt seit kurzem eine Karikatur von Til Mete. Ein kleiner Junge in einem Kinderzimmer, ein Chaos an Spielsachen überall verstreut und der strafende Blick der Mutter in der
Tür: „Das waren die Kurden!“ ist die fadenscheinige Ausrede des Kleinen für die angerichtete Unordnung.
Nicht immer ist das Bild kurdischer Migranten in der deutschen Öffentlichkeit so humorvoll. Kurden – das sind in unserer öffentlichen Wahrnehmung manchmal die „Waisen des Universums“
– wie der Kurdenführer Barzani sie nannte, die Opfer von politischer Verfolgung in ihren Heimatländern, die als Flüchtlinge zu uns kommen. Es sind aber auch die Täter, Sympathisanten
der PKK, die wiederholt in der Bundesrepublik mit Gewalttaten auf sich und ihre Forderungen aufmerksam gemacht haben. Die Diskussion um diese gewaltsamen Auseinandersetzungen prägte
in den letzten Jahren nicht nur das Bild kurdischer Migranten in Deutschland, sie hat auch die Beschäftigung mit Fragen, die die konkreten und alltäglichen Lebensumstände von Migranten
kurdischer Herkunft betreffen, in den Hintergrund treten lassen.
Seit den sechziger Jahren leben kurdische Migranten in Deutschland, sie kamen in Folge der Arbeitsanwerbung und als Familienangehörige, später als politische Flüchtlinge. Wahrgenommen
wurden sie zumeist als Staatsangehörige ihrer Herkunftsländer, als Türken, Iraner, Iraker oder Syrer, obwohl ihr Anteil unter den Migranten aus diesen Ländern zumeist überdurchschnittlich ist.
Erst in den letzten Jahren haben sie sich aus dem Schatten ihrer nationalstaatlich verfassten Herkunftsländer lösen und als ethnisch-kulturell eigenständige Minderheit artikulieren können.
Doch während etwa in Frankreich schon seit Jahren ein kurdisches Institut existiert, gibt es in der Bundesrepublik mit seiner etwa einer halben Million kurdischer Migranten allenfalls Ansätze zu
solchen Institutionen, die sich mit Fragen kurdischer Geschichte, Gegenwart und Identität auseinandersetzen. Auch in der Migration- und Integrationsforschung existieren weiterhin große
weiße Flecken hinsichtlich dieser Migrantengruppe. Hier gibt es aus meiner Sicht noch großen Bedarf.
Die vorgestellte Studie ist ein Beispiel für diese Entwicklung hin zu einer Beschäftigung mit der Thematik der Integration einer ethnisch-kulturellen Minderheit aus einem nationalstaatlich
verfassten Herkunftsland. Welche besonderen Gesichtspunkte müssen bei der Integration von Minderheiten aus nationalstaatlich verfassten Herkunftsländern berücksichtigt werden? In einer
Welt, die als übergeordnetes politisches Kriterium die nationalstaatliche Zugehörigkeit hat, geraten Fragen, die zugewanderte Minderheiten dieser Nationalstaaten betreffen, leicht aus dem Blickfeld.
Bemerkenswert ist hierbei, dass ethnische oder religiöse Minderheiten gerade unter Zuwanderern oft stärker repräsentiert sind als im Herkunftsland selbst. Politische Verfolgung von Minderheiten
oder kulturelle Unterdrückung ebenso wie wirtschaftliche Unterentwicklung und kriegerische Auseinandersetzungen in den Siedlungsgebieten der Minderheiten veranlassen ihre Angehörigen
vergleichsweise häufiger zur Arbeitsemigration oder zwingen sie zur Flucht.
Das übergeordnete Ordnungskriterium der nationalstaatlichen Zugehörigkeit hat in einer Einwanderungssituation positive wie negative Auswirkungen. Die „Blindheit“ des Einwanderungslandes Deutschland gegenüber der ethnischen Vielfalt innerhalb der Migrantengruppe aus einem Nationalstaat ist für Minderheiten oft befreiend. Ihre ethnische Zugehörigkeit ist im Einwanderungsland nicht mehr Anlass für politische Verfolgung; sie genießen grundsätzlich die gleichen Rechte wie andere Zuwanderer, z.B. auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, beim Versammlungsrecht oder bei der Selbstorganisation ihrer politischen und kulturellen Interessen. Ihre ökonomische, soziale und politische Chancengleichheit unterscheidet sich nicht grundlegend von der anderer Migranten.
Einschränkungen in diesen Bereichen entstehen dann, wenn wie beim türkisch-kurdischen Konflikt auch außenpolitische Interessen Auswirkungen haben auf innenpolitische Entscheidungen. Das
Verbot der PKK und die inzwischen aufgehobene Weisung, an kurdische Organisationen in Deutschland grundsätzlich keine öffentlichen Mittel, zum Beispiel aus den Mitteln für
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, zu vergeben, wurden unter diesem Gesichtspunkt kritisiert.
Gleichzeitig führt die ausschließliche Ausrichtung der Integrationspolitik an nationalstaatlicher Zugehörigkeit in anderen Bereichen zu Benachteiligungen. So ist kein muttersprachlicher Unterricht in Nicht-Nationalsprachen vorgesehen, in Deutschland beschränkt sich dieser weitgehend auf die Staatssprachen der Anwerbeländer. Gleiches galt für die Sozialberatung. Weiterhin fehlt der Minderheit die politische Schutz- und Lobbyfunktion des Herkunftsstaates gegenüber der Regierung des Einwanderungslandes.
Die Bedeutung ethnischer Identität und die Rolle der Muttersprache, der Kontakt zu staatlichen Stellen und zum gesamten gesellschaftlichen Umfeld sind Fragen, die nicht ausschließlich die Minderheit betreffen. Sie können sinnvoll nur unter Einbeziehung beider Seiten des Integrationsprozesses von Mehrheit und Minderheit bzw. auch von Minderheiten untereinander behandelt werden.
Welche Anforderungen an alle beteiligten Seiten bestehen? Welche Grenzen müssen eingehalten werden?
Der Mehrheit der Bevölkerung wie auch den staatlichen Stellen wird erst langsam bewusst, wie groß die innere kulturelle, ethnische, sprachliche und religiöse Vielfalt der zugewanderten Bevölkerung ist. Die Politisierung dieser Zugehörigkeiten und Orientierungen in den Herkunftsstaaten, wie sie bei Kurden oder auch bei Muslimen stattfindet, erschwert einen sachlichen und situations-angemessenen Umgang mit diesen Gruppen in Deutschland. Die zunehmend grenzüberschreitende Verdichtung politischer, wirtschaftlicher, medialer Verbindungen und Abhängigkeiten, macht es gleichzeitig erforderlich, Ereignisse in den Herkunftsländern zu berücksichtigen.
Die Problematik liegt darin, einen Mittelweg zu finden, der sowohl den zugewanderten Gruppen hier und ihren herkunftsbezogenen Interessen gerecht wird als auch die gesellschaftliche Grundlage demokratischer und gewaltfreier Konfliktlösung sowie der grundsätzlich individuellen und nicht nach ethnischer Gruppenzugehörigkeit strukturierten Beziehung zwischen Bürger und Staat respektiert.
Die staatlichen Institutionen müssen also die politischen und kulturellen Rechte der Minderheiten aus Nationalstaaten sichern, ohne dass ethnisch-kulturelle Kriterien und Zugehörigkeiten zum zentralen Merkmal erhoben werden. Das betrifft zum Beispiel das Versammlungs- und Vereinsrecht, die Gleichberechtigung bei der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, die grundsätzliche Bereit-schaft, muttersprachlichen Unterricht einzuführen, und die Entfaltung kultureller Aktivitäten zu ermöglichen.
Eine Verständigung zwischen kurdischen und türkischen Zuwanderern wird darüber hinaus gefördert, wenn nach den zahlreich vorhandenen Gemeinsamkeiten in den Lebenserfahrungen als Migranten sowie in den politischen und gesellschaftlichen Zielen im Herkunftsland und in Deutschland gesucht wird. Wenn sich verschiedene Einwanderergruppen feindschaftlich gegenüberstehen, können sie weniger für ihre Situation im Herkunftsland und in Deutschland erreichen, als wenn sie dort solidarisch handeln, wo gemeinsame Interessen bestehen.
Die übergeordnete Frage ist auch, welche Rolle ethnische Zugehörigkeit im Einwanderungsland Deutschland spielen darf und soll. Das betrifft nicht nur Minderheiten innerhalb der zugewanderten Gruppe. Um diese Fragen zu klären, braucht es sachlicher und fundierter Grundlagen der Mechanismen von Identitätsbildung. Hierzu dient auch die vorliegende Untersuchung.
Marieluise Beck