Direkt zum Inhalt

Kurdisch-Sein, mit deutschem Pass!

Submitted by Rêvebir_E on 26 Juni 2010

Die Studie basiert auf einer landesweiten Erhebung zur Gruppe der Jugendlichen kurdischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. In 350 Interviews, die mittels eines statistischen Verfahrens ausgewertet wurden, wird die Lebenssituation dieser Gruppe widergespiegelt. Durch die Analyse der Themenkomplexe "Sprachgebrauch und Mehrsprachigkeit", "Bildungsaspiration und -chancen" und "kulturelle Identität"  werden Besonderheiten der Lebenssituation dieser Gruppe erfasst. Leitende Fragestellungen der Untersuchung sind:

 

  • Wie sind die Bedingungen für formale und alltägliche Integration in die Aufnahmegesellschaft?
  • Wie nehmen die Jugendlichen kurdischer Herkunft am gesellschaftlichen Leben des Aufnahmelandes teil?
  • Welche Faktoren bestimmen Nähe und Distanz zur Herkunftskultur?
  • Welche Konsequenzen haben ausgrenzende Erfahrungen für kurdische Jugendliche bei dem Aushandeln verschiedener, zum Teil widersprüchlicher Botschaften in ihrem Alltagsleben?
  • Wie werden Chancen zur Partizipation an gesellschaftlichen Ressourcen vor dem Hintergrund fehlender Rückkehroptionen genutzt?
  • Wie gestalten sich die Bezüge zu Freunden, Familie und Freizeit?

 

 

Vorwort der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen
 
Jugendliche kurdischer Herkunft in Deutschland
 
In  meinem  Büro  hängt  seit  kurzem  eine  Karikatur  von  Til  Mete.  Ein  kleiner  Junge  in  einem Kinderzimmer, ein Chaos an Spielsachen überall verstreut und der strafende Blick der Mutter in der
Tür:  „Das  waren  die  Kurden!“  ist  die  fadenscheinige  Ausrede  des  Kleinen  für  die  angerichtete Unordnung.


Nicht immer ist das Bild kurdischer Migranten in der deutschen Öffentlichkeit so humorvoll. Kurden – das sind in unserer öffentlichen Wahrnehmung manchmal die „Waisen des Universums“
–  wie  der  Kurdenführer  Barzani  sie  nannte,  die  Opfer  von  politischer  Verfolgung  in  ihren Heimatländern, die  als Flüchtlinge  zu uns kommen. Es  sind  aber  auch die Täter, Sympathisanten
der  PKK,  die wiederholt  in  der  Bundesrepublik mit Gewalttaten  auf  sich  und  ihre  Forderungen aufmerksam gemacht haben. Die Diskussion um diese gewaltsamen Auseinandersetzungen prägte
in  den  letzten  Jahren  nicht  nur  das  Bild  kurdischer Migranten  in Deutschland,  sie  hat  auch  die Beschäftigung  mit  Fragen,  die  die  konkreten  und  alltäglichen  Lebensumstände  von  Migranten
kurdischer Herkunft betreffen, in den Hintergrund treten lassen.
Seit den sechziger Jahren leben kurdische Migranten in Deutschland, sie kamen in Folge der Arbeitsanwerbung  und  als Familienangehörige,  später  als  politische Flüchtlinge. Wahrgenommen
wurden  sie  zumeist  als  Staatsangehörige  ihrer  Herkunftsländer,  als  Türken,  Iraner,  Iraker  oder Syrer, obwohl ihr Anteil unter den Migranten aus diesen Ländern zumeist überdurchschnittlich ist.
Erst  in  den  letzten  Jahren  haben  sie  sich  aus  dem  Schatten  ihrer  nationalstaatlich  verfassten Herkunftsländer  lösen  und  als  ethnisch-kulturell  eigenständige  Minderheit  artikulieren  können.
Doch während etwa in Frankreich schon seit Jahren ein kurdisches Institut existiert, gibt es in der Bundesrepublik mit  seiner  etwa  einer  halben Million  kurdischer Migranten  allenfalls Ansätze  zu
solchen  Institutionen,  die  sich  mit  Fragen  kurdischer  Geschichte,  Gegenwart  und  Identität auseinandersetzen. Auch  in  der Migration-  und  Integrationsforschung  existieren weiterhin  große
weiße  Flecken  hinsichtlich  dieser Migrantengruppe.  Hier  gibt  es  aus meiner  Sicht  noch  großen Bedarf.
  Die vorgestellte Studie ist ein Beispiel für diese Entwicklung hin zu einer Beschäftigung mit der  Thematik  der  Integration  einer  ethnisch-kulturellen  Minderheit  aus  einem  nationalstaatlich
verfassten  Herkunftsland.  Welche  besonderen  Gesichtspunkte  müssen  bei  der  Integration  von Minderheiten  aus  nationalstaatlich  verfassten  Herkunftsländern  berücksichtigt  werden?  In  einer
Welt, die als übergeordnetes politisches Kriterium die nationalstaatliche Zugehörigkeit hat, geraten Fragen, die zugewanderte Minderheiten dieser Nationalstaaten betreffen, leicht aus dem Blickfeld.
Bemerkenswert  ist  hierbei,  dass  ethnische  oder  religiöse Minderheiten  gerade  unter Zuwanderern oft  stärker  repräsentiert  sind als  im Herkunftsland  selbst. Politische Verfolgung von Minderheiten
oder  kulturelle  Unterdrückung  ebenso  wie  wirtschaftliche  Unterentwicklung  und  kriegerische Auseinandersetzungen  in  den  Siedlungsgebieten  der Minderheiten  veranlassen  ihre Angehörigen
vergleichsweise häufiger zur Arbeitsemigration oder zwingen sie zur Flucht.
Das  übergeordnete  Ordnungskriterium  der  nationalstaatlichen  Zugehörigkeit  hat  in  einer Einwanderungssituation positive wie negative Auswirkungen. Die  „Blindheit“  des  Einwanderungslandes Deutschland  gegenüber  der  ethnischen Vielfalt innerhalb  der Migrantengruppe  aus  einem  Nationalstaat  ist  für Minderheiten  oft  befreiend.  Ihre ethnische Zugehörigkeit ist im Einwanderungsland nicht mehr Anlass für politische Verfolgung; sie genießen  grundsätzlich  die  gleichen Rechte wie  andere  Zuwanderer,  z.B.  auf  dem Arbeits-  oder Wohnungsmarkt,  beim Versammlungsrecht  oder  bei  der  Selbstorganisation  ihrer  politischen  und kulturellen  Interessen.  Ihre  ökonomische,  soziale  und  politische  Chancengleichheit  unterscheidet sich nicht grundlegend von der anderer Migranten.
Einschränkungen in diesen Bereichen entstehen dann, wenn wie beim türkisch-kurdischen Konflikt auch  außenpolitische  Interessen  Auswirkungen  haben  auf  innenpolitische  Entscheidungen.  Das
Verbot  der  PKK  und  die  inzwischen  aufgehobene  Weisung,  an  kurdische  Organisationen  in Deutschland  grundsätzlich  keine  öffentlichen  Mittel,  zum  Beispiel  aus  den  Mitteln  für
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, zu vergeben, wurden unter diesem Gesichtspunkt kritisiert.  

Gleichzeitig  führt  die  ausschließliche  Ausrichtung  der  Integrationspolitik  an nationalstaatlicher  Zugehörigkeit  in  anderen  Bereichen  zu  Benachteiligungen.  So  ist  kein muttersprachlicher  Unterricht  in  Nicht-Nationalsprachen  vorgesehen,  in  Deutschland  beschränkt sich  dieser  weitgehend  auf  die  Staatssprachen  der  Anwerbeländer.  Gleiches  galt  für  die Sozialberatung.  Weiterhin  fehlt  der  Minderheit  die  politische  Schutz-  und  Lobbyfunktion  des Herkunftsstaates gegenüber der Regierung des Einwanderungslandes.  
Die  Bedeutung  ethnischer  Identität  und  die  Rolle  der  Muttersprache,  der  Kontakt  zu staatlichen  Stellen  und  zum  gesamten  gesellschaftlichen  Umfeld  sind  Fragen,  die  nicht ausschließlich die Minderheit betreffen. Sie können sinnvoll nur unter Einbeziehung beider Seiten des Integrationsprozesses von Mehrheit und Minderheit bzw. auch von Minderheiten untereinander behandelt werden.  
Welche  Anforderungen  an  alle  beteiligten  Seiten  bestehen?  Welche  Grenzen  müssen eingehalten werden?
Der Mehrheit der Bevölkerung wie auch den staatlichen Stellen wird erst langsam bewusst, wie  groß  die  innere  kulturelle,  ethnische,  sprachliche  und  religiöse  Vielfalt  der  zugewanderten Bevölkerung  ist.  Die  Politisierung  dieser  Zugehörigkeiten  und  Orientierungen  in  den Herkunftsstaaten,  wie  sie  bei  Kurden  oder  auch  bei  Muslimen  stattfindet,  erschwert  einen sachlichen  und  situations-angemessenen  Umgang  mit  diesen  Gruppen  in  Deutschland.  Die zunehmend grenzüberschreitende Verdichtung politischer, wirtschaftlicher, medialer Verbindungen und  Abhängigkeiten,  macht  es  gleichzeitig  erforderlich,  Ereignisse  in  den  Herkunftsländern  zu berücksichtigen.  
Die  Problematik  liegt  darin,  einen Mittelweg  zu  finden,  der  sowohl  den  zugewanderten Gruppen hier und ihren herkunftsbezogenen  Interessen gerecht wird als auch die gesellschaftliche Grundlage demokratischer  und  gewaltfreier Konfliktlösung  sowie  der  grundsätzlich  individuellen und  nicht  nach  ethnischer  Gruppenzugehörigkeit  strukturierten  Beziehung  zwischen  Bürger  und Staat respektiert.  
Die  staatlichen  Institutionen  müssen  also  die  politischen  und  kulturellen  Rechte  der Minderheiten  aus  Nationalstaaten  sichern,  ohne  dass  ethnisch-kulturelle  Kriterien  und Zugehörigkeiten  zum  zentralen  Merkmal  erhoben  werden.  Das  betrifft  zum  Beispiel  das Versammlungs-  und  Vereinsrecht,  die  Gleichberechtigung  bei  der  Inanspruchnahme  öffentlicher Mittel,  die  grundsätzliche  Bereit-schaft, muttersprachlichen  Unterricht  einzuführen,  und  die Entfaltung kultureller Aktivitäten zu ermöglichen.
 Eine Verständigung zwischen kurdischen und türkischen Zuwanderern wird darüber hinaus gefördert, wenn nach den  zahlreich vorhandenen Gemeinsamkeiten  in den Lebenserfahrungen  als Migranten  sowie  in  den  politischen  und  gesellschaftlichen  Zielen  im  Herkunftsland  und  in Deutschland  gesucht  wird.  Wenn  sich  verschiedene  Einwanderergruppen  feindschaftlich gegenüberstehen,  können  sie  weniger  für  ihre  Situation  im  Herkunftsland  und  in  Deutschland erreichen, als wenn sie dort solidarisch handeln, wo gemeinsame Interessen bestehen.
Die  übergeordnete  Frage  ist  auch,  welche  Rolle  ethnische  Zugehörigkeit  im Einwanderungsland Deutschland spielen darf und soll. Das betrifft nicht nur Minderheiten innerhalb der  zugewanderten  Gruppe.  Um  diese  Fragen  zu  klären,  braucht  es  sachlicher  und  fundierter Grundlagen  der  Mechanismen  von  Identitätsbildung.  Hierzu  dient  auch  die  vorliegende Untersuchung.  
   
Marieluise Beck