Nach dem arabischen Frühling nähert sich auch der Kurdische
Von Memo Sahin
Die Protestwellen, die Anfang des Jahres in Tunesien begonnen haben, zwangen zwei Diktaturen, sich dem Protest der Massen zu beugen und die Macht aufzugeben.
Dieser arabische Frühling erreichte mittlerweile Jemen und Libyen, und klopft auch an die Tür des Familienclans Assad in Syrien, der seit Jahrzehnten gegen den Willen der breiten Gesellschaft mit Gewalt herrscht.
In Syrien leben Araber, Kurden, Assyrer und Armenier. Sie sind Moslems, Christen, Yesiden und Nusairier. Von den 20 Millionen Menschen in Syrien sind etwa 2 Millionen Kurden, mehrheitlich sunnitische Moslems und Yesiden.
Diese 20 Millionen Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Zugehörigkeit leben seit Jahrzehnten unter der Gewaltherrschaft einer kleinen Minderheit.
Die Geschichte Syriens beginnt mit der Auflösung des Osmanischen Reiches nach dem 1. Weltkrieg und der Gründung Syriens, das erst ein französisches Mandat war und 1946 unabhängig wurde.
Obwohl Kurden einer brutalen Arabisierungspolitik ausgesetzt waren und noch immer sind, duldeten sie die Assad-Herrschaft stillschweigend aus Furcht vor den fanatischen Moslembrüdern. Eine ähnliche Haltung nahmen auch die anderen Minderheiten wie die christlichen Assyrer und Armenier ein. Im Gegensatz zu den sunnitischen Arabern sind Kurden stärker säkular orientiert und leben mit den christlichen Minderheiten gutnachbarschaftlich zusammen.
Die Proteste in Syrien werden zurzeit hauptsächlich von den sunnitischen Arabern getragen, die nicht gut organisiert sind. Die Kurden sind im Vergleich dazu seit Jahrzehnten gut organisiert. Öcalans PKK, Barzanis KDP und Talabanis PUK sind Hauptakteure auch unter den Kurden in Syrien, die über Schwesterparteien ein gut funktionierendes Netz aufgebaut haben.
Die etwa zwei Millionen Kurden in Syrien sind noch relativ ruhig und führen nur kontrollierte Protestaktionen gegen die Baath-Diktatur, weil sie nicht sicher sind, wohin die Wellen sie treiben können.
Wenn die Protestwellen in arabischen Teilen des Landes zunehmen und das Regime in Damaskus zu bröckeln beginnen sollte, werden voraussichtlich auch die Kurden mit Massenprotesten auf die Straße gehen und für ihre Rechte kämpfen. Die Kurden werden dann dafür kämpfen, dass der angebrochene Frühling im Nahen Osten nicht vor ihre Nase vorbei geht und sie nicht erwärmt.
Wenn die Protestwellen die kurdischen Provinzen und Enklaven in Syrien erreichen, wenn die Kurden in Qamishlo aufstehen, werden voraussichtlich auch die Kurden jenseits der Grenze, die von Stacheldraht und Minenfeldern getrennt sind, nicht tatenlos zusehen und ihren Verwandten, Brüdern und Schwestern in Syrien nach Möglichkeit helfen. Dies gilt genauso auch für irakische Kurden, die allabendlich die Lichte ihrer Landsleute auf der anderen Seite der Grenze beobachten.
Der Wind des arabischen Frühlings weht freilich auch in die kurdische Gesellschaft in Irakisch-Kurdistan, wo sich bedenkliche Verfestigungen von mächtigen Eliten zeigen. Forderungen nach mehr demokratischer Teilhabe und materieller Gerechtigkeit werden auch hier auf der Straße vorgetragen. Das ist gut so, denn demokratische Entwicklung ist kein Selbstläufer, sondern muss in allen Ländern erkämpft und gesichert werden. Das gelingt nur durch die Schaffung von Freiheitsräumen, in denen die Interessen der Bevölkerung artikuliert werden können.
Die Entwicklungen in Syrien bereiten auch den Machthabern in Ankara schlaflose Nächte. Sie versuchen mit allen Mitteln die syrische Regierung zu bewegen, durch einige Zugeständnisse die Massen zu beruhigen um den Status Quo beizubehalten.
Dabei vergisst Ankara aber, dasselbe im eigenen Land zu tun und die grundlegenden Rechte für die Kurden zu gewähren. Mit Polizeigewalt, mit militärischen Operationen, mit Massenverhaftungen versucht sie, die protestierenden Kurden in Schranken zu halten. Zu vermuten ist jedoch, dass die Massenproteste, die unterschiedlichen Aktionen des zivilen Ungehorsams der Kurden Ankara letztlich veranlassen werden, ihre Politik in Richtung auf Reformen zu verändern. Schon jetzt ist der türkische Staat in den kurdischen Gebieten in Kasernen, Polizeistationen und Gouverneursgebäuden eingesperrt und agiert wie eine Kolonialmacht. Die Hauptstraßen der Städte gehören tagsüber Ankara, abends werden ganze Provinzen von Kurden kontrolliert. So wird ein de facto Selbstverwaltung schrittweise installiert.
Am 30. April 2011 erklärte allerdings der türkische Premier Erdogan im kurdischen Mus noch, dass es für ihn kein kurdisches Problem mehr gebe. Nach dieser Aussage, die alle Möglichkeiten und Wege zur Suche nach einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage ausschließt, könnte es sein, dass die Kurden nach den Wahlen am 12. Juni einseitig das Projekt der Selbstverwaltung oder nach dem Modell ‚Autonomes Kurdistan‘ einseitig proklamieren und versuchen, es in die Tat umzusetzen.
Nach den Umwälzungen im Nahen Osten könnte das Jahr 2011 sowohl für Kurden in Syrien als auch in der Türkei neue Entfaltungsmöglichkeiten mit sich bringen und ein Entscheidungsjahr sein!