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Modernisierung und Umweltprobleme im Nordirak | Jungle World

Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein erlebte der kurdische Nordirak eine schnelle Modernisierung: Es wurde viel gebaut und viel konsumiert. Eine umweltpolitische Strategie, die diese Entwicklung begleitete, gab es nicht. Nun versinken die größeren Städte im Müll und Smog, funktionierende Kanalisationssysteme gibt es kaum.

von Thomas von der Osten-Sacken

Der Blick von Anap, einem oberhalb der kurdischen Stadt Halabja liegenden Dorf, auf die darunter liegende Ebene könnte gerade bei Sonnenuntergang so schön sein. Aber was man sieht, ist vor allem eine dicke, weiße Rauchwolke, die sich bis an den Horizont zieht. »Um diese Zeit verbrennen sie den Müll«, sagt Mam Amin und lacht: »Früher war es Saddam Hussein mit seinem Giftgas, der uns umgebracht hat, heute erledigen wir das selbst.« Nicht nur der Gestank ist schier unerträglich, der beißende Rauch reizt die Schleim­häute in Augen und Atemwegen. Auch in anderen Städten des kurdischen Nordirak entledigt man sich seines Mülls auf diese archaische Art und Weise. Ob Plastikflasche, Farbeimer, Autoreifen, Essensreste oder Spraydose: Wenige hundert Meter von den jeweiligen Stadtgrenzen entfernt geht jeden Tag alles in Flammen auf. Welche Gifte dadurch freigesetzt werden und in Böden und Trinkwasser geraten, kann man nur vermuten, Untersuchungen dazu gibt es keine.

Auch wenn täglich unzählige Menschen unter den Rauchschwaden leiden, wird diese Praxis kaum kritisiert. Man nimmt sie hin, wie so viele andere Nachteile der Modernisierung eben auch. Nur die wenigsten Bewohner der Region sind sich überhaupt der gesundheitlichen Folgen bewusst.

In Suleymaniah, einer Stadt mit inzwischen fast einer Million Einwohnern, hat man sich inzwischen durchgerungen, den Abfall in einer tiefen Grube zu versenken. Angezündet wird er nur noch im Einzelfall. Nun soll eine italienische Firma Abhilfe schaffen und eine erste Müllverbrennungsanlage bauen. Wann und ob diese je fertig gestellt wird, ist aber unklar. Derweil fallen täglich Tonnen von neuem Müll an, irgendeine Art von Recycling gibt es bislang nicht, weder für Papier noch Glas oder Plastik.

Bis vor wenigen Jahren war das Problem zu bewältigen, schließlich lebte ein Großteil der Bevölkerung auf dem Land, wo hauptsächlich organischer Abfall anfiel. Armut und Not schränkten den Konsum ein, und vieles, was heute auf die Müllhalden wandert, wurde weiterverwertet, etwa Getränkedosen, aus denen man Behältnisse für Speiseöl und andere Flüssigkeiten herstellte. Heute wird im Nordirak kaum noch etwas produziert. Dank der Petrodollars importiert man inzwischen sogar Früchte und Gemüse aus dem Ausland, während ein Großteil der eigenen Landwirtschaft brachliegt. Einst galt der kurdische Norden als Kornkammer des Irak. Supermärkte in Suleymaniah verkaufen dieser Tage in Plastik eingeschweißte Äpfel aus Chile. Ein Gemüseverkäufer erzählt, dass er einen Großteil der Tomaten und Gurken aus Syrien und dem Iran importiere.

Werner Nijman, Irak-Projektleiter der niederländischen Hilfsorganisation Salt, plant nun ein erstes Pilotprojekt, um der wachsenden Müllberge Herr zu werden. Mit Unterstützung eines nordirischen Unternehmens will er in Dohuk eine erste Anlage zum Recycling von Plastikflaschen in Betrieb nehmen. Die kostet gerade einmal 10 000 Euro, das geschredderte Plastik soll zur Weiterverarbeitung an eine Firma in Bagdad billig verkauft werden. Nijman stören vor allem die überall achtlos weggeworfenen Flaschen, unübersehbares Markenzeichen eines jeden Straßengrabens im Irak. Eingesammeltes Plastik soll kiloweise bezahlt werden und so auch armen Familien ein Anreiz gegeben werden, die Flaschen einzusammeln.

Denn bislang fehlt den meisten Kurden jedwedes Bewusstsein für einen etwas sorgsameren Umgang mit Ressourcen und Umwelt. Der Wandel kam zu schnell: Bis 2003 herrschten im Nord­irak Mangel und Not. Nach dem Sturz Saddam Husseins brach zumindest für Teile der städtischen Mittelschichten eine Zeit des Wohlstandes an. Ohne Planung wurde überall gebaut, man schaffte sich Autos an und steigerte den Energiebedarf um ein Vielfaches. Wie in unzähligen anderen urbanen Ballungszentren der sogenannten Dritten Welt auch hielt die bestehende Infrastruktur nicht mit. Zehntausende von Autos verstopfen heute die großen Städte, Stau ist zur alltäglichen Erfahrung geworden, und entsprechend schlecht ist die Luft. Schockiert zeigten sich viele Bewohner Suleymaniahs, als kürzlich der zur Oppositionspartei Goran gehörende Fernsehsender KNN in der Stadt vor laufender Kamera Abgasuntersuchungen vornehmen ließ: Grenzwerte wurden an den meisten Teststellen um gut ein 50faches überschritten. An windstillen Tagen versinkt die Stadt, die einst sogar wegen ihrer Höhenlage für ihre gute Luft bekannt war, inzwischen unter einer dicken Smogschicht. Mindestens die Hälfte des Strombedarfs gewinnen die Bewohner aus Generatoren, die über die Stadt verteilt sind und die einzelnen Quartiere mit Elektrizität versorgen. Betrieben werden sie mit schlecht raffiniertem Diesel. Auch das auf dem Markt erhältliche Benzin taugt wenig und soll unter 90 Oktan haben. Entsprechend groß ist der Schadstoffausstoß der Kraftwagen.

Goran Sabeer, ein Arzt, der seine Doktorarbeit in den USA geschrieben hat, glaubt, dass beispielsweise die enorm hohe Rate an Krebserkrankungen im Nordirak auch Folge der rasant steigenden Umweltverschmutzung ist. Tausende Neuerkrankungen werden jährlich registriert. »Und das ist erst der Anfang«, meint er, »wenn nicht bald etwas unternommen wird, steigen die Zahlen weiter.«

Wenig besser sieht es mit Wasser- und Abwasserversorgung aus. Früher, zu Zeiten des britischen Mandatsgebietes, verfügte die Stadt über ein offenes Abwassersystem. »Damit wurden die Felder gedüngt«, erinnert sich Salar Mahmoud, ein Angestellter der Stadtverwaltung, der seit 60 Jahren hier lebt. Nein, eine richtige Kanalisation gäbe es nicht, auch das Klärwerk, das Anfang der siebziger Jahre in Betrieb genommen wurde, arbeite seit dem Krieg gegen den Iran nicht mehr. So fließen die Abwässer der Stadt ungeklärt in einen nahen Fluss ab und werden in den 100 Kilometer südlich der Stadt gelegenen Darbandikan-Stausee gespült. Der wiederum liefert Trinkwasser in Halabja und anderen Städten. Suleymaniah bezieht sein Frischwasser aus einem anderen Stausee, Dokan, der nahe der iranischen Grenze liegt. »Und die Iraner wiederum leiten all ihren Dreck dorthin«, erklärt Salar. Denn auch im Nachbarland herrschen ähnliche Zustände. Dort werden Ressourcen derart verschwendet, dass iranische Umweltschützer jetzt eindringlich vor einer ökologischen Katastrophe in den kurdischen Gebieten warnen. Überall in der Region wird weit mehr Wasser konsumiert, als zur Verfügung steht. So sinkt der Grundwasserspiegel überall bedrohlich, einst fruchtbare Gebiete verwandeln sich in rasantem Tempo in Halbwüsten.

Dagegen wird viel zu wenig unternommen. Zwar gibt es ein Umweltministerium in Arbil, der Hauptstadt des Nordirak, von dem hört man allerdings nicht viel. Immerhin wurden in den vergangenen Jahren einige ambitionierte Aufforstungsprojekte ins Leben gerufen. Der einst baumreiche kurdische Nordirak war nach diversen Kriegen und den Notzeiten in den neunziger Jahren, als Brennmaterial schier unerschwinglich war, völlig abgeholzt. Heute stehen hohe Strafen auf das Fällen von Bäumen, und die ersten Erfolge sind schon zu sehen: Ganze Bergrücken in der Region sind wieder grün.

Solche Maßnahmen reichen allerdings bei weitem nicht aus. »Wenn wir so weitermachen, leben wir hier bald in einem Alptraum«, meint Goran. »Leider ist das Umweltbewusstsein im Nahen Osten völlig unterentwickelt«, fügt er hinzu. Immerhin bilden sich erste Initiativen. Neben größeren Organisationen wie »Nature Iraq«, die es sich zum Ziel gesetzt hat, im Südirak die von Saddam Hussein zerstörten Marschgebiete zu renaturieren und dort einen ersten irakischen Nationalpark zu schaffen, sind es Gruppen von Jugendlichen, die nun beginnen, auf die Verschmutzung von Luft und Umwelt aufmerksam zu machen, und die Regierung auffordern, gegen die grassierende Ressourcenverschwendung aktiv zu werden.

Quelle: http://jungle-world.com/artikel/2010/48/42207.html

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