Prügel im kurdischen Frühling | v. Thomas v.d. Osten-Sacken
Jungle-world.com - Tausende Polizisten, Soldaten und Milizionäre marschierten im nordirakischen Suleymaniah gegen die Protestbewegung auf. Auch die als liberaler geltende Regierungspartei Puk hat sich diskreditiert.
In den kurdischen Medien klang es äußerst dramatisch. Ein »Tora Bora« habe man gerade noch verhindern können, sagte etwa der für die irakisch-kurdische Armee verantwortliche Minister Sheikh Jafar, nachdem er am 18. April den Befehl gegeben hatte, mit Tausenden von Soldaten die seit Monaten anhaltenden Proteste in Suleymaniah zu beenden. Oppositionelle drückten sich ebenso drastisch aus. Das Vorgehen der beiden im Nordirak regierenden Parteien KDP (Kurdische Demokratische Partei) und Puk (Patriotische Union Kurdistans) sei noch schlimmer als das, was Diktator Saddam Husseins den Kurden angetan habe, empörte sich beispielsweise Mufid Abdullah in dem Online-Portal Kurdistan Aspect.
Die Ereignisse selbst waren dann doch weniger dramatisch. In der Tat marschierten Tausende von Milizionären und Sicherheitskräften in Suleymaniah und anderen Städten der Provinz ein, es wurde geprügelt und geschossen, aber nach einigen Tagen kehrte wieder so etwas wie Normalität ein. Oppositionelle Zeitungen erschienen weiter, die Festgenommenen wurden zwar teils schwer misshandelt, aber in relativ kurzer Zeit wieder freigelassen. Es gab keine ernsthaften Versuche, die Anführer der Proteste, von denen einige sich versteckten, ausfindig zu machen.
Wenig professionell wirkte das Auftreten der aus Polizei, Sicherheitsdiensten und Parteimilizen zusammengestellten Truppe. Da offenbar ein eklatanter Mangel an Schlagstöcken herrschte, hatte man ganze Einheiten mit Gardinenstangen oder PVC-Rohren bewaffnet. Auch Uniformierte, die gelangweilt herumlungerten, herzhaft gähnten oder sich ausgiebig in der Nase bohrten, waren keine Seltenheit. Schon wenige Tage nach dem Aufmarsch begannen sich dann auch Zeitungskommentatoren über das Erscheinungsbild dieser Armee zu mokieren.
Seit dem Beginn der Proteste wurden zehn Menschen erschossen und mehr als 400 zum Teil schwer verletzt, sogar Panzer fuhren auf. Vor ein paar Monaten wäre es noch undenkbar gewesen, dass ausgerechnet im Nordirak Uniformierte auf Demonstranten schießen und einprügeln. Schließlich galt der Norden des Landes als der »andere Irak« und sogar als demokratisches Vorbild für den Nahen Osten. Damit ist es nun erst einmal vorbei, im Inland wie im Ausland. »Eine Regierung, die Truppen gegen die eigene Bevölkerung einsetzt, kann sich gerade in diesen Tagen wohl kaum Vorbild nennen«, sagt etwa der Student Ifran Ahmed*, der zu den Organisatoren der Proteste gehört. Jaza Mohammad, Leiter von Radio Dang, dessen Studio im Februar von Vermummten verwüstet wurde, meint: »In jeder politischen Krise zeigen die kurdischen Machthaber erneut, dass sie nicht bereit sind, die freie Meinungsäußerung zu ertragen und zu dulden.« Auch von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International kam ungewohnt scharfe Kritik.
Was Mitte Februar als »kurdischer Frühling« begann, hat sich inzwischen in eine hässliche Angelegenheit verwandelt, deren Folgen für alle Beteiligten völlig unabsehbar sind. Inspiriert von den Bildern aus Tunesien und Ägypten, hatte sich damals in Suleymaniah eine Protestbewegung gebildet, sie forderte ein Ende der Korruption, Arbeitsplätze vor allem für die Jugend, eine Verbesserung der Infrastruktur, mehr Transparenz und die Stärkung von Justiz und Parlament gegenüber Regierung und Parteien. Getragen wurden diese Proteste vor allem von Jugendlichen und Studenten. Ein Bündnis der drei Oppositionsparteien des kurdischen Nordirak, der säkularen Change List (Goran) sowie zweier islamischer Parteien, unterstützte die Demonstrationen, versuchte sie aber auch für die jeweiligen parteipolitischen Zwecke zu instrumentalisieren.
Denn weiterhin wird das politische Leben im Nordirak von Parteien dominiert, unabhängige Organisationen oder Bewegungen existieren bestenfalls rudimentär und haben kaum gesellschaftlichen Einfluss. Vom ersten Protesttag an entlud sich auch die in Jahren angestaute Frustration vieler Jugendlicher, Steine flogen und Barrikaden wurden errichtet. Die schlecht ausgebildeten und oft völlig überforderten Polizisten und Sicherheitskräfte töteten am 18. Februar erstmals einen Demonstranten. Es gelang zwar, die Lage wenigstens in Suleymaniah zu beruhigen, die Forderungen wurden jedoch radikaler. Rief man anfänglich nur nach Reformen, so wurde von vielen bald auch der Rücktritt der kurdischen Regionalregierung, vor allem aber des Präsidenten Massoud Barzani gefordert.
In den zwei folgenden Monaten versammelten sich täglich Demonstranten auf dem zwischenzeitlich in Freedom Square umbenannten Hauptplatz im Basarviertel Suleymaniahs. An manchen Tagen sollen es Zehntausende gewesen sein. Auch in den anderen Städten und Orten der Region kam es zu Demonstrationen und Protesten. Die Regierung und die herrschenden Parteien warfen den Demonstranten einerseits vor, Islamisten zu sein oder es mit arabischen Nationalisten zu halten, andererseits gab es vage Reformversprechen und Aufrufe zum »nationalen Dialog«. Diverse Sondersitzungen des Parlaments blieben weitgehend ergebnislos. Die Bewegung verlor an Schwung, immer weniger Menschen nahmen an den Kundgebungen teil, weil ihre Forderungen so offensichtlich ins Leere liefen.
So dürfte die Entscheidung, mit Milizen gegen die Demonstranten vorzugehen, nicht gefallen sein, weil die Lage in Suleymaniah bedrohlich schien. Anders als im traditionell von der Puk beeinflussten Süden, wo es überall zu Protesten kam, versuchte die KDP, die faktisch die Kontrolle im Norden ausübt, mit allen Mitteln Demonstrationen vor allem in Arbil, der Hauptstadt der Autonomieregion, zu verhindern. Mit offenen Drohungen und Repression ging man gegen alle vor, die ihrem Unmut Ausdruck verleihen wollten.
Obwohl die irakische Verfassung und die kurdischen Gesetze die Versammlungsfreiheit garantieren, wurden alle Versuche, Demonstrationen legal anzumelden, vom Gouverneur mit dem Verweis auf einen herrschenden Ausnahmezustand abglehnt. Rückfragen, wer den Ausnahmezustand wann und wie verhängt habe, blieben unbeantwortet. Als dann Mitte April trotzdem vereinzelt Studenten, Oppositionelle und sogar Parlamentarier der Goran auf die Straße gingen, wurden diese Demonstrationen mit Gewalt aufgelöst. Man wollte sich aber offenbar auch der Quelle des Übels entledigen. Das zumindest glaubt Ardalan Asos*, einer der Protestierenden aus Suleymaniah: »Es bestand kein Grund, mit Soldaten gegen uns vorzugehen. Die Puk hat das auf Anordnung von Barzani gemacht.«
Die KDP galt immer als die autokratischere der beiden Parteien, nun aber hat die Puk ihren Ruf verloren, aufgeschlossener und liberaler zu sein. Einige ihrer Minister befürworteten eine Politik der Härte, andere versuchten, sich kompromissbereit zu zeigen. Weder aber gelang es, eine einheitliche Politik zu entwickeln, noch konnte der parteiinterne Konflikt beendet werden. Inzwischen haben sich zwar einige hochrangige Puk-Mitglieder offen von dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Proteste distanziert, der Rest der Partei scheint jedoch handlungsunfähig zu sein. »Die Puk und Jalal Talabani erscheinen uns nur noch als verlängerter Arm der KDP«, resümiert Asos.
Einen desorganisierten und planlosen Eindruck machte allerdings auch die Protestbewegung. Das Bündnis der oppositionellen Parteien kritisierte das Vorgehen der Regierung zwar scharf, verhielt sich ansonsten aber passiv. Den Anführern und Sprechern der Demonstrationen gelang es bislang nicht, auf die Niederschlagung der Proteste mit einer gemeinsamen Linie zu reagieren. Und wie einige der Demonstraten inzwischen selbstkritisch feststellen, fehlt es ihnen ebenso wie den regierenden Parteien an Konzepten, wie die geforderten Reformen aussehen und verwirklicht werden könnten. Zwar fanden an der Universität und verschiedenen Schulen weiter sporadische Kundgebungen und Streiks statt, der Gouverneur aber sagte, dass er zumindest vorläufig keinerlei Demonstrationen in der Stadt dulden werde. Selbst die traditionelle 1. Mai-Kundgebung wurde untersagt. Wie es nun weitergehen soll, wissen weder Regierung noch Opposition. Der vermeintlich »andere Irak« hat sich als eine Illusion erwiesen. Nur eines ist sicher, eine Rückkehr zum Status quo ante wird es nicht geben.