Die Kurden gelten nicht mehr als antiimperialistische Avantgarde
Die K-Frage sorgt für Verwirrung
Einst galten die Kurden der Linken als »unterdrücktes Volk« und Avantgarde im Kampf gegen den Imperialismus. Nun demonstrieren Linke gemeinsam mit türkischen Nationalisten und Islamisten.
von Thomas von der Osten-Sacken
Hätte man vor zehn Jahren prophezeit, dass der Tag kommen würde, an dem europäische Linke, ohne eine Miene zu verziehen, in einem Meer von türkischen Fahnen gegen Israel demonstrieren, wäre man bestenfalls ausgelacht worden. Aber die gewaltsame Aufbringung der »Mavi Marmara« hat es möglich gemacht. Ob in Bern, Berlin oder Paris – inmitten türkischer Fahnen marschierten Mitglieder der Partei »Die Linke«, der Schweizer Grünen und andere vermeintliche Internationalisten.
Sie hatten keinerlei Bedenken, ihrer »Solidarität mit Gaza« gemeinsam mit türkischen Nationalisten und Islamisten Ausdruck zu verleihen. Früher galt die türkische Fahne noch als abscheuliches Symbol eines quasi faschistischen Staates, der als Vorposten von Nato und westlichem Imperialismus den kurdischen Befreiungskampf gewaltsam unterdrückte. Wenn »Hoch die internationale Solidarität« gerufen wurde, dachte man oft an Kurden, die türkischen Militärkampagnen zum Opfer gefallen waren. Nun aber entdeckt man etwas Unterstützenswertes in Tayyip Erdogans neuer Politik.
Verkehrte Welt: Während sich der türkische Premierminister als neue antizionistische Lichtgestalt inszenierte, begannen die Kader der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die früher gerne ellenlange Pamphlete gegen Imperialismus und Zionismus verfassten, sich für einen »New Middle East« zu erwärmen. Ausgerechnet der inhaftierte ehemalige PKK-Führer Abdullah Öcalan ließ kürzlich aus seiner Zelle verlauten, dass er der Schaffung eines palästinensischen Staates kritisch gegenüberstehe und die Forderung nach einem nationalen Selbstbestimmungsrecht, wie Marx, Engels und Lenin es verstanden hätten, ein großer Fehler gewesen sei. »Der Gedanke, dass Völker mittels eines Staates ihre Zukunft selbst bestimmen werden, war einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch des Realsozialismus«, meint Öcalan nun, propagiert »Demokratische Autonomie« und versucht dezidiert, sich von alten Gewissheiten zu verabschieden.
Die allgemeine Konfusion blieb nicht auf Solidaritätsdemonstrationen beschränkt. Da Anfang Juni die PKK ihren Waffenstillstand aufkündigte und Anschläge gegen das türkische Militär folgten, meldeten sich auch in den türkischen Medien Stimmen zu Wort, die vor einer neuartigen Verschwörung warnten. Er wisse nicht, ob er ein Staatsgeheimnis ausplaudere, schrieb etwa Emre Uslu in der Zeitung Zaman, die der regierenden AKP nahesteht. Aber es sei »Fakt, dass das türkische Militär davon ausgeht, es gäbe eine Verbindung zwischen Israel und der PKK. Deshalb kritisiert Tayyip Erdogan auch so deutlich Israel.«
Ein Bündnis zwischen der PKK und Israel, das doch die türkische Armee seit Jahren auch im Kampf gegen die Kurden ausrüstet? Eine ziemlich abwegige Idee, die aber in vielen kurdischen Medien, vor allem im Irak, durchaus auf Zustimmung stieß. Hawar Bazian, Herausgeber des in Arbil erscheinenden Magazins Israel-Kurd sagte der Jerusalem Post kürzlich, er hoffe, dass Israel in der Tat beginne, die PKK in ihrem Kampf gegen die türkische Regierung zu unterstützen. Die Kurden seien nämlich die einzigen wirklichen Freunde des jüdischen Staates in der Region. Man habe auch eine Vielzahl gemeinsamer Feinde. Das unsinnige Bündnis Israels mit dem türkischen Staat solle deshalb beendet werden.
In Israel, wo jede Regierung bisher ein enges Bündnis mit der Türkei angestrebt hat, wurden nun offizielle Stimmen laut, die ähnliche Überlegungen anstellten. Ausgerechnet auf der Website des Mossad war im Juni die Forderung nach einem »unabhängigen Kurdenstaat« zu lesen.
Umfragen zufolge votieren 70 Prozent der irakischen Kurden für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel. Immer wieder sind Besucher erstaunt darüber, wie beliebt Israel im Nordirak ist. Eigentlich ist das kein Wunder, denn den arabisch-nationalistischen Feinden der Kurden galt und gilt der jüdische Staat als das Grundübel, und in der jihadistischen Propaganda wird Kurdistan gerne als das »Israel des Irak« bezeichnet. So musste sich schon manch ein »Internationalist« im Nordirak anhören, nicht die Kurden, sondern die deutschen Linken, die nie etwas gegen Saddam Hussein gesagt haben, hätten ein Problem mit den USA und Israel.
Im Iran sieht es nicht anders aus. Wer von den Ayatollahs unterdrückt wird, hat wenig Grund, sich in antiimperialistischer Phraseologie zu üben. Iranisch-kurdische Parteien fordern Demokratie, Autonomie, Trennung von Staat und Religion sowie ein Ende des Mullah-Regimes. So sehr iranische Politiker auch betonen mögen, der Iran stehe an der Seite »unterdrückter Völker«, bei den Kurden kommen sie damit nicht gut an. Kürzlich warnte die PKK, die früher ein besseres Verhältnis zum Regime hatte, dass sie Konsequenzen ziehen müsse, falls der Iran nicht aufhören sollte, Grenzdörfer im Irak zu bombardieren.
Innerhalb der kurdischen Gebiete war es in letzter Zeit ohnehin nur noch die PKK, die ins manichäische linke Weltbild passte, wo die »Zärtlichkeit der Völker« im Befreiungskampf noch real zu sein schien und deutsche Antiimperialisten mit offenen Armen empfangen wurden. Zusehends aber entsprach dieses Bild nicht mehr der Realität. Es wird hauptsächlich noch in Publikationen der Kurdistan-Solidaritätsbewegung propagiert, in denen Autoren etwa über die Nähe von venezolanischem Chavismus und kurdischem Befreiungskampf fabulieren.
Die PKK, auch wenn sie weiterhin eine autoritär geführte Partei bleibt, in deren Rängen sich Altstalinisten tummeln, versucht nämlich seit längerem, sich von zentralen Bestandteilen ihrer ehemals linksnationalistischen und antiimperialistischen Ideologie zu lösen. Bereits im Herbst 2002, als klar wurde, dass Saddam Husseins Tage gezählt waren, hielt die PKK sich mit Verurteilungen der US-Kriegspläne auffällig zurück. Hinter den Kulissen befürwortete man durchaus einen »neuen Nahen Osten«. Hätte die PKK anders reagiert, wäre wohl eine Spaltung in der kurdischen Bewegung die Folge gewesen. Schließlich begrüßte die überwältigende Mehrheit der irakischen Kurden die US-Invasion.
Die Widersprüche, die nun offen zutage traten, sind also nicht neu. In der türkischen Regierung, die sich 2003 dezidiert gegen die USA stellte, fand die hiesige Friedensbewegung schon damals einen weit passenderen Bündnispartner als in der PKK. Die Kurdische Arbeiterpartei begann damals, sich um bessere Beziehungen zu den USA zu bemühen. Mit bislang gemischtem Erfolg, denn das Bündnis mit der Türkei gilt den Amerikanern weiterhin als unerlässlich, weshalb die PKK auch weiter als »Terrororganisation« geführt wird. Dennoch unterhält sie seit einiger Zeit eine inoffizielle Vertretung in Washington.
Mit einer ehemals linksradikalen Partei, deren Organisation einem Führerprinzip unterliegt, wollte sich das politische Establishment der USA, anders als mit den irakisch-kurdischen Parteien, nicht anfreunden. Lieber glaubte man, auch die AKP sei ein verlässlicher Verbündeter und Nato-Alliierter, obwohl Erdogan alles unternahm, um das Gegenteil zu beweisen. Aber nach dessen antiisraelischen Äußerungen und Avancen gegenüber dem Iran, der Hizbollah und Syrien erinnerten doch erstaunlich viele amerikanische Kommentatoren an die fatale Lage in den türkischen Kurdengebieten und schwärmten davon, wie eng man mit irakischen Kurden kooperiere.
Wäre die PKK etwas anders strukturiert und das Bündnis mit der Türkei den USA nicht derart wichtig, stünde direkten Verhandlungen eigentlich nichts im Wege. Vielen Mitgliedern und Funktionären der Partei fällt es schwer, sich von der alten Ideologie zu lösen, doch viele andere haben längst begriffen, dass es eine Zukunft im vermeintlich antiimperialistischen Lager im Nahen Osten für sie nicht geben wird. Im »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ist kein Platz für die Kurden. Sie haben keinen Bedarf an Bündnispartnern wie der iranischen Regierung und islamistischen Parteien, die, wenn sie von unterdrückten Völkern sprechen, die Palästinenser meinen.
De facto strebt die PKK längst keine sozialistische Republik Kurdistan mehr an, sondern eine Regelung nach irakischem Vorbild. So erklärte Osman Baydemir, der Bürgermeister von Dyarbakir, erst kürzlich, man strebe eine »autonome Region« in der Türkei an. Auch Erdogan hatte versprochen, das »Kurdenproblem« zu lösen, und wichtige, wenn auch nicht weitreichende Reformen eingeleitet. Obwohl es nur ungern eingestanden wird, haben inzwischen auch große Teile des türkischen Establishments begriffen, dass die Zeiten sich geändert haben. Eigentlich, so denkt man, steht einer Einigung wenig im Weg. Anders als im Fall Palästinas geht es weder um einen ideologisch allzu aufgeladenen Konflikt, noch werden bestehende Grenzen in Frage gestellt.
Es geht nicht mehr um die Schaffung eines eigenen Kurdenstaates, auch wenn einige kurdische Nationalisten noch immer hoffen, dass er eines Tages Realität werden möge. Auch das türkische Establishment hat wohl verstanden, dass etwa von der föderalen Region Irakisch-Kurdistan keine Bedrohung ausgeht, sondern man dort einen recht verlässlichen Partner hat. Nirgends machen türkische Unternehmen derzeit so große Gewinne wie im Nordirak. Wird die Nabucco Pipeline eines Tages gebaut, so verläuft sie auch durch kurdische Gebiete. Ohne ein Abkommen aber, das hat die PKK gerade erst wieder bewiesen, wird die Region nicht zur Ruhe kommen.
Es erscheint fast wie eine Ironie der Geschichte, dass die Kurden, die einst als Avantgarde des antiimperialistischen Kampfes galten, sich als Partner bei der Schaffung eines säkularen, demokratischen und dann wohl auch prosperierenden Nahen Ostens anbieten. Mit den Internationalisten der Mavi-Marmara-Linken dagegen verbindet sie kein gemeinsames Interesse mehr. Es wird noch dauern, bis diese Erkenntnis sich verbreitet. Dass aber die Kurden, selbst in der Türkei, sich nicht mehr als Objekt vermeintlich revolutionärer Hoffnungen eignen, dürfte spätestens im Sommer 2010 jedem klar geworden sein, der es wissen will.