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Der „arabische Frühling“ in Syrien wird ein anderer sein | Dr. Kamal Sido

Spricht man in diesen Tagen über Syrien, wird auch immer wieder von der Herrschaft der Alawiten gesprochen. In der Tat besetzen sie heute alle Schlüsselpositionen in der syrischen Armee und in anderen staatlichen Strukturen des Landes. Waren die Alawiten von Beginn an privilegiert? Nein, ganz und gar nicht. Die Alawiten waren die ersten Opfer des Assads Regime. Eine der ersten Säuberungsaktionen, die Hafis Assad, Vater des heutigen Machthabers Baschar Assad, durchführte, war gegen die Alawiten gerichtet. Nachdem H. Assad am 16. November 1970 geputscht hatte, begann er die alawitischen Offiziere um General Salah Dschadid, ebenfalls ein Alawit, erbarmungslos zu verfolgen. . Assad verriet seinen eigenen Kameraden General Dschadid und schickte ihn für 23 Jahre ins Gefängnis. Der Grund, warum H. Assad mit Dschadid so erbarmungslos abrechnete, war die Absicht Dschadids, Assad vor einem Disziplinargremium der regierenden Baath-Partei zur Rede zu stellen. Assad, damals Verteidigungsminister ging seinen Verpflichtungen nicht nach, weil er es versäumt hatte, den syrischen Streitkräften, die sich damals auf Seite der palästinensischen PLO gegen Jordanien stellten, zu Hilfe zu kommen. Alt und krank starb Dschadid 1993 in seinem Kerker.
Am 20. Januar 2012 wurde diese in Vergessenheit geratene Seite der alawitischen Geschichte in Syrien in einer öffentlichen Erklärung von alawitischen Intellektuellen wieder in Erinnerung gerufen. In ihrer Erklärung bekräftigten die Alawiten, dass die Clique um Baschar Assad niemals alle Alawiten vertreten kann.[1]«Wir Alawiten wurden 1000 Jahre lang von den Sunniten als Häretiker verfolgt, da zieht man sich zurück in die Berge…», sagt eine Alawitin im Interview mit der NZZ.[2] Die Alawiten tarnten sich unter den türkischen Osmanen, die das Alawitentgebiet an der syrischen Mittelmeerküste von 1518 bis 1918 beherrschten. Sie haben sich oft auch als Christen angegeben, da diese als „Schutzbefohlene“ besser gestellt waren. Seit der Machtergreifung durch Assads Familie änderte sich die Situation zum Besseren. Die Alawiten durften nicht mehr gezwungen werden, in ihren Dörfern Moscheen zu bauen.[3]
Auch wenn die Assads in Syrien noch an der Macht sind, hat sich die Lage für die Alawiten bereits grundlegend verändert. Mindestens im zentralsyrischen Homs müssen alawitische Frauen wieder um ihr Leben fürchten. Um sich zu tarnen, tragen sie Kopftuch oder sogar ein Kreuz an der Halskette. Das ist der Preis, den die Alawiten zahlen müssen, weil Assad und seine panarabistischen Baath-Banden andere Bevölkerungsgruppen allen voran die Sunniten jahrelang brutal verfolgten.
In den letzten Monaten nahm die Unterdrückungsmaschinerie des Baath-Regimes ein bis dato nie dagewesenes Ausmaß an. Im Zuge des so genannten arabischen Frühlings kommt es seit Anfang März 2011 in Syrien täglich zu Protesten und Auseinandersetzungen.
Das syrische Regime geht brutal gegen die Proteste, die über das ganze Land verteilt stattfinden, vor. Neben Tränengas wird auch scharfe Munition eingesetzt. Laut der UN sollen mindestens 5000 Menschen getötet worden sein (Die GfbV geht wie andere Menschenrechtsorganisationen von mindestens 6000 Toten und 20.000 Flüchtlingen, die in den Libanon und die Türkei geflohen sind, aus). Teile der Armee liefen zu den Demonstranten über und bildeten die so genannte „Freie Armee Syriens“. Das Regime Assads spricht von islamistischen Terroristen, die hinter den Protesten stehen.
Tatsächlich sind verschiedenste nationale und internationale Kräfte in Syrien aneinander geraten. Der schiitische Iran und die sunnitische Türkei versuchen ihren Einflussbereich auszubauen. Experten sprechen bereits von einem sunnitisch-schiitischen „kalten Krieg“ im gesamten Nahen Osten. Die Leidtragenden werden auch diesmal die einfachen Menschen in der Region sein.
In Großer Sorge um das Schicksal der Minderheiten
Die GfbV als eine Menschenrechtsorganisation, die für die Rechte verfolgter oder bedrohter ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten eintritt, ist in großer Sorge vor allem über das Schicksal der nicht-arabischen und nicht-sunnitisch-muslimischen Bevölkerung Syriens. Mindestens 45% der syrischen Bevölkerung besteht aus Angehörigen der ethnischen und religiösen Minderheiten.
Kurden, die in drei Regionen an der Grenze zur Türkei die Bevölkerungsmehrheit stellen, haben weder kulturelle noch sprachliche oder politische Rechte. Sie sind schon immer einer doppelten, wenn nicht dreifachen Unterdrückung ausgesetzt. Nun fürchten die Kurden, wieder zwischen die Fronten zu geraten und ein Spielball im türkisch-persischen „Hegemonialkampf“ zu werden. Von Beginn an haben sich die Kurden aktiv an friedlichen Antiregimeprotesten beteiligt. Dass die kurdische Bevölkerung bisher verhältnismäßig wenige Opfer zu beklagen hat, ist vor allem der gewaltlosen und weitsichtigen Politik der syrisch-kurdischen Demokratiebewegung zu verdanken. Um den Forderungen der kurdischen Bevölkerung mehr Ausdruck zu verleihen, gründeten verschiedene syrisch-kurdische Organisationen im Oktober 2011 den "Kurdish National Council - KNCS". Seit dieser Gründung proklamiert eine große Mehrheit der kurdischen Bevölkerung Syriens bei verschiedenen öffentlichen Kundgebungen, dass dieser Rat die Interessen der kurdischen Bevölkerung repräsentiert.
Es stehen allerdings nicht alle Kurden Syriens hinter dem Kurdischen Nationalrat. So verweigert die "Democratic Union Party" (Partiya Yekitîya Demokrat, PYD) ihren Beitritt zum KNCS. Die Einflussreiche PYD befürchtet vor allem eine Stärkung des türkischen Einflusses in Syrien. Sie lehnt jegliche militärische Beteiligung der Türkei an Aktionen in Syrien ab. Die PYD ist eine Schwesterorganisation der in Deutschland verbotenen kurdischen PKK. Der KNCS ist jedoch weiter bestrebt, mit der PYD eine Eignung zu finden, so dass die PYD und der KNCS gemeinsam für die Belange der Kurden in Syrien auftreten können. Auch kleinere kurdische Organisationen, wie die von dem im Oktober 2011 ermordeten kurdischen Politiker und GfbV-Freund Maschaal Tamo gegründeten kurdische Zukunftsbewegung, sollen eingebunden werden.
Grundsätzlich will der KNCS das Regime stürzen. Er fordert den Föderalismus und damit die Selbstbestimmung für die kurdische Bevölkerung und für ganz Syrien. Dies sei die einzige Alternative zum Regime. Darüber hinaus wird die vollständige Religions- und Glaubensfreiheit gefordert. Die überwiegend von Kurden bewohnten Gebiete im Norden des Landes sollen zu einer administrativen Einheit gemacht und von ihren Einwohnern selbst verwaltet werden. Die kurdische Sprache soll offiziell als zweite Landessprache anerkannt werden. Eine Delegation von dem KNCS unter der Leitung von Hamid Darwish (Progressive Kurdish Democratic Party of Syria) hat sich bereits mit der Arabischen Liga in Kairo getroffen und ihre Ansichten zu der Lage in Syrien dargelegt. Auf Grund der starken Vertretung der Muslimbruderschaft innerhalb der Reihen des im Oktober 2011 in Istanbul gegründeten Syrischen Nationalrats (Syrian National Council – SNC) befürchten die Kurden einen zu großen Einfluss der Islamisten bei der Gestaltung eines zukünftigen politischen Systems. Auch mit dem in Syrien im September 2011 ins Leben gerufenen und säkularen Oppositionsgruppe „Nationales Koordinationskomitee für demokratischen Wandel" (NCC) ist der KNCS im Gespräch.
Was die christliche Minderheit in Syrien anbetrifft, so fürchtet ein großer Teil von ihnen, dass nach einem Sturz Assads radikale Muslime die Macht übernehmen könnten und die religiösen Freiheiten der Christen einer islamisch ausgerichteten Politik mit Kopftuchzwang und einem islamischen Rechtssystem weichen müssen. Die Christen bilden keine homogene Gruppe. Sie sind in verschiedene Kirchen eingeteilt. Es bestehen auch ethnische Unterschiede. Eine kleine Minderheit der syrischen Christen will nicht als Araber bezeichnet werden, sondern als Assyro-Aramäer. Sie leben vor allem im Nordosten des Landes, in der Provinz al-Hasakeh. In den Protesthochburgen wie Homs beteiligen sich viele Christen an den Demonstrationen. Vor allem junge Christen sind aktiv in die Proteste involviert. Die Demonstrationen zogen durch christliche Viertel: Einige Kirchen in Homs haben ihre Glocken für die Ermordeten Demonstranten geläutet. Die Kirchenoberhäupter stehen jedoch offiziell noch hinter dem Regime. Sie wollen ihre derzeitigen Freiheiten im Hinblick auf die Situation der Christen im Irak nicht verlieren.
Ein Fazit
Nach fast einem Jahr ununterbrochenen Protesten gegen das Assad-Regime ist in Syrien eine „Pattsituation“ entstanden: Trotz massiver Gewalt wird dem Regime nicht gelingen, den Aufstand niederzuschlagen. Auch die Aufständischen sind nicht im Stande, die Diktatur zu Fall zu bringen, solange die große Mehrheit der Syrer nicht auf die Straßen geht und aktiv an der Antiregierungsbewegung teilnimmt. Daher und vor dem Hintergrund des massiven internationalen Drucks auf das Regime scheint es mir jedoch, dass die Assads es verstanden haben, dass ihre Zeit in Syrien abgelaufen ist. Dem Assad-Clan und den meisten Alawiten geht es nur noch darum, feste Garantien zu erhalten, dass die Sunniten nicht an ihnen Rache nehmen. Es ist nahezu sicher, dass die Islamisten an den Alawiten grausame Rache üben werden. Daher werden die Alawiten bis zuletzt kämpfen müssen. Syrien würde dann in einen langjährigen und zerstöririschen Bürgerkrieg fallen. Um all dies noch verhindern zu können, ist eine internationale Syrien-Konferenz, an der alle Beteiligten mitentscheiden, wie die Zukunft des Vielvölkerstaates aussehen wird, schleunigst einzuberufen. Die Herrschaft einer Volksgruppe über alle anderen darf es in Syrien nicht mehr geben.

[1] http://www.elaph.com/Web/opinion/2012/1/710722.html?entry=homepagearaa (20.01.2012)
[2] Mona Sarkis, NZZ, 04.08.2011
[3] Ebd.
http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id=2341&stayInsideTree=1

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